Selbstverantwortung lernen – zwischen Individualität und sozialem Kontext

Alles schreit förmlich nach Selbstverantwortung: „Sorge für dich selbst! Nimm dein Leben in die Hand!“ heißt es im Konzept der Resilienz. „Organisiert euch selbst! Bringt eigene Ideen ein!“ fordern Unternehmen von Mitarbeitenden. Oder von Führungskräften: „Seid ein gesundes Vorbild! Findet selbst Antworten auf all die verschiedenen Ansprüche hier!“

Gerade in einer Welt, die immer komplexer wahrgenommen wird, klingt Selbstverantwortung lernen verlockend: Befreit es nicht von äußeren Zwängen und verspricht mehr Freiheit, Selbstbestimmung und Aktivität? Systemisch betrachtet ist diese Gleichung jedoch nicht so einfach.

Der Mensch ist nicht trivial

Sowohl Körper als auch Psyche sind komplexe, eingenständige Systeme – voller Wechselwirkungen mit den verschiedenen Umwelten. Wir sind wirklich alles – nur nicht trivial! Die Suche nach einer eindeutigen Ursache für ein Verhalten verschafft höchstens kurzzeitige Ruhe. Schon bald treten neue Wechselwirkungen, Gründe oder Erklärungen und Zusammenhänge auf.

Auch das Selbst ist keine feste Größe, sondern ein dynamisches System. Menschen erzählen sich Geschichten über sich selbst in Beziehung zur Umwelt. Diese Selbsterzählungen sind flexibel und kontextabhängig – und doch schaffen wir immer wieder Stabilität, indem wir uns als „zuverlässig“, „ehrgeizig“ oder „hilfsbereit“ definieren. Aber stimmt das wirklich in jedem Kontext?

"Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?"

(Buchtitel von David Precht)

In der Psychotherapie oder im Coaching beschreibt man innere Dynamiken oft mit dem Konzept der „inneren Anteile“ (Ego-State). Unterschiedliche Stimmen oder Bedürfnisse treten miteinander in Beziehung, koalieren oder widersprechen sich. Verantwortung zu übernehmen heißt dann: Eine Antwort auf einen Anspruch zu finden – aber welcher innere Anteil stellt den Anspruch? Und welcher Anteil findet die Antwort?

Selbstverantwortung lernen bedeutet deshalb, die eigene innere Dynamik bewusster wahrzunehmen. Wer seine Muster erkennt, kann sie hinterfragen und bekommt über die Zeit gesehen mehr Handlungsspielraum.

Selbstverantwortung in Organisationen

Doch Selbstverantwortung entsteht nie im luftleeren Raum. Ein Mensch kann in einem Kontext voller Eigeninitiative handeln – und im nächsten, beispielsweise in seiner Organisation, passiv wirken oder Verantwortung abgeben. Das liegt nicht an einem persönlichen „Defizit“ des Individuums, sondern erzählt etwas über den sozialen Kontext.

Organisationen sind Systeme von Kommunikation, Erwartungen und impliziten Regeln. Welche Normen, Tabus und Haltungen dort gelebt werden, beeinflusst unmittelbar, wie viel Selbstverantwortung möglich ist.

Ein Beispiel: In einem Unternehmen, in dem Fehler sanktioniert statt reflektiert werden, wird kaum jemand Verantwortung für mutige Entscheidungen übernehmen. In einer Organisation, die Transparenz und Lernkultur fördert, kann dieselbe Person ein hohes Maß an Selbstverantwortung zeigen.

Selbstverantwortung lernen bedeutet also auch, den Kontext mitzudenken. Individuelles Verhalten darf nie losgelöst vom sozialen Kontext bewertet oder eingestuft werden. Wer Selbstverantwortung in Organisationen fördern will, muss daher nicht nur an individuellen Kompetenzen arbeiten, sondern auch an den Regeln, Machtverhältnissen und Selbstverständlichkeiten des Systems – und auch das ist nicht ganz trivial. Erfahre hier mehr darüber wie Organsiationen „ticken“.

Sieben Schritte für Selbstverantwortung lernen

  1. Sprechen Sie in der ICH-Perspektive – und übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Sprechen.
    Statt „man“ oder „wir“ benennen Sie Ihr eigenes Erleben: „Ich habe gemerkt…“. So machen Sie Ihre Verantwortung im Gespräch sichtbar und schaffen Klarheit im sozialen Miteinander.
  2. Verlassen Sie die Opferrolle – auch im Team.
    Fragen Sie sich: „Was ist MEIN Anteil daran?“ – nicht nur für sich selbst, sondern auch in Bezug auf Ihre Wirkung auf andere. Verantwortung bedeutet, sowohl den eigenen als auch den kollektiven Beitrag anzuerkennen.
  3. Treffen Sie bewusste Entscheidungen – und stehen Sie zu deren Folgen.
    Auch nichts zu tun ist eine Wahl. Übernehmen Sie Verantwortung dafür, welche Wirkung Ihr Handeln oder Nichthandeln im sozialen Kontext hat.
  4. Trauen Sie sich NEIN zu sagen – aus Verantwortung für sich und andere.
    Ein klares NEIN schützt nicht nur Sie selbst, sondern schafft auch Orientierung für Ihr Umfeld. Verantwortung bedeutet hier: Grenzen aufzeigen, um Beziehungen verlässlicher zu machen.
  5. Sprechen Sie über Ihre Ziele – und laden Sie andere in den Dialog ein.
    Wer seine Ziele teilt, übernimmt Verantwortung dafür, Unsicherheiten sichtbar zu machen und dadurch kollektives Lernen zu ermöglichen. Selbstverantwortung öffnet Räume für gemeinsame Entwicklung.
  6. Arbeiten Sie an Ihrer Einstellung – und reflektieren Sie – auch im sozialen Kontext – Ihre Wirkung.
    Es sind nicht die Umstände, sondern Ihr Umgang damit, der auch über Ihr Wohlbefinden entscheidet. Verantwortung heißt, sich zu fragen: Welche Haltung trage ich ins Team oder in die Organisation hinein – und was löse ich dort aus?
  7. Leben Sie Ihr Leben – und gestalten Sie Beziehungen bewusst.
    Verbinden Sie sich mit Ihren Gefühlen und kultivieren Sie mehr davon, was Sie lebendig macht. Verantwortung bedeutet dabei auch, diese Lebendigkeit in den sozialen Kontext einzubringen – als Energiequelle für Sie selbst und andere.

Diese sieben Schritte sind natürlich keine Patentrezepte, wohl aber Orientierungspunkte, um die eigene Selbstverantwortung Schritt für Schritt zu stärken – sowohl individuell als auch im beruflichen Kontext.

Fazit: Selbstverantwortung lernen – ein doppelter Weg

Selbstverantwortung lernen bedeutet mehr, als sich diszipliniert um das eigene Handeln zu kümmern. Es ist eine Einladung, die feinen Fäden zu erkennen, die unser individuelles Tun mit dem Gewebe der Gemeinschaft verweben. Manchmal tragen wir in einem Kontext voller Selbstverständlichkeit Verantwortung, während wir sie in einem anderen kaum ergreifen können. Das erzählt nicht von Schwäche, sondern vom Einfluss des sozialen Systems – seinen Regeln, unausgesprochenen Erwartungen und kulturellen Mustern.

Selbstverantwortung lernen heißt also: das Eigene zu stärken, ohne das Gemeinsame aus dem Blick zu verlieren. Verantwortung wird zu einem Resonanzraum – zwischen Innen und Außen, zwischen Selbst und Organisation. Wer den Mut findet, seine eigenen Antworten zu suchen, schenkt damit zugleich dem sozialen Feld neue Möglichkeiten.

Am Ende ist Selbstverantwortung kein Besitz, sondern eine Bewegung, ein Prozess. Sie erwächst aus der Entscheidung, die eigene Stimme hörbar zu machen, Grenzen zu achten, Ziele zu teilen und sich den Wechselwirkungen zu stellen. In diesem Spannungsfeld wird Verantwortung zur Kunst – einer Kunst, die uns freier macht und zugleich tiefer verbindet.

An diese Stelle möchten wir noch auf ein wunderbares Gedicht aufmerksam machen:

Wir sind alle dazu bestimmt uzu leuchten!

„Wir sind alle dazu bestimmt zu leuchten!

Unsere tief greifende Angst ist nicht, dass wir ungenügend sind.

Unsere tief greifende Angst ist, über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein.

Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, die uns am meisten Angst macht.

Wir fragen uns, wer bin ich, mich brillant, großartig, talentiert, phantastisch zu nennen?

Aber wer bist Du, Dich nicht so zu nennen?

Dich selbst klein zu halten, dient nicht der Welt.

Es ist nichts Erleuchtendes daran, sich so klein zu machen, dass andere um Dich herum sich nicht unsicher fühlen.

Wir sind alle bestimmt zu leuchten, wie es die Kinder tun.

Wir sind geboren worden, um den Glanz Gottes, der in uns ist, zu manifestieren.

Er ist nicht nur in einigen von uns, er ist in jedem Einzelnen.

Und wenn wir unser Licht erscheinen lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.

Wenn wir von unserer Angst befreit sind, befreit unsere Gegenwart automatisch andere.“

Von Marianne Willemson / Auszug aus Nelson Mandelas Antrittsrede als Präsident von Südafrika

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